
Seit längerer Zeit denke ich intensiv über social media nach. Ich nutze verschieden Plattformen schon seit Jahren. Einige davon gibt es gar nicht mehr oder nur noch in der Theorie (What happened to myspace.com, Tom?). Jetzt möchte ich damit aufhören.
Social media hat sich verändert. Von der ursprünglichen Idee sozialer Netzwerke ist kaum noch etwas übrig. In den großen Netzwerken hat sich der „Überwachungskapitalismus“ etabliert, wie es der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Prof. Ulrich Kelber treffend formulierte.
Er bezog sich dabei auf den Datenschutz, doch warum verletzen großen Unternehmen diesen überhaupt? Es geht – wie so oft – um Geld, konkret um Werbung. Um viel Werbung. Um immer mehr, geschicktere, getarnte Werbung. Es geht um das Unterbewusstsein der Nutzerinnen und Nutzer und darum, ganz großes Durcheinander in ganz viele Köpfe zu bringen!
Es geht darum, dass die reichsten Männer der Welt noch reicher werden, indem sie Menschen dazu zwingen, Werbung zu konsumieren – Werbung, die von den bestbezahlten Werbeagenturen, Psychologen, Soziologen und Ökonomen der Welt bis ins kleinste Detail optimiert wurde. Sie ist so genau auf jede und jeden zugeschnitten, dass man kaum noch bemerkt, dass man die angepriesenen Produkte weder braucht noch will.
Doch nicht nur die Werbung selbst ist optimiert, sondern das gesamte Medium. Ziel ist es, Menschen so lange wie möglich am Bildschirm zu halten, um ihnen noch mehr Werbung anzuzeigen und sie zur Interaktion zu bewegen, damit sie „wach“ bleiben (vgl. den Film „The Social Dilemma“ bzw. „Das Dilemma mit den sozialen Medien“). Diese Netzwerke tun alles dafür, dass wir dort unsere Zeit verschwenden.
Ich möchte mich nicht länger bewusst und mit den ausgeklügeltsten Methoden der Welt abhängig machen lassen von schnellen Reizen, Bildern, Likes und Herzen.
Ich halte mich nicht für anfällig, in Suchtverhalten zu geraten, doch was hier passiert, ist schlichtweg unmenschlich. Studien belegen eindeutig, dass die Nutzung dieser manipulativen Systeme zu psychischen Erkrankungen führen (siehe Links am Ende des Textes).
Viele Smartphones erfassen mittlerweile, wie lange man welche Apps nutzt. Ich habe an manchen Tagen ein bis zwei Stunden mit „Soziale Medien“ verbracht. Im Vergleich zu meiner Altersgruppe mag das noch wenig sein, aber: ein bis zwei Stunden! Wann hast du das letzte Mal ein so langes Gespräch geführt? Oder ein ausführliches Telefonat mit einem Freund oder einer Bekannten, die du selten siehst? Genau dafür habe ich mich einst bei diesen Plattformen angemeldet: um Kontakte zu halten und zu pflegen. Doch stattdessen verschwende ich meine Zeit in einem endlosen Strom aus Inhalten, die oft keinen Mehrwert haben.
Und wieviel soziale Interaktion findet dabei wirklich statt? Im Vergleich zu einem persönlichen Gespräch: erschreckend wenig. Vielmehr entsteht das Gegenteil: Jede und jeder präsentiert sich so, wie es am besten aussieht – selbst wenn es nicht der Realität entspricht. Diese Selbstdarstellung folgt oft erlernten Muster, die absolut bedenklich sind. Ich sehe bearbeitete Bilder, ich sehe operierte Körper und ich sehe minderjährige Schülerinnen in Posen, die stark sexualisiert sind. Das macht alle Beteiligten krank.
Nachdem man sich selbst präsentiert hat, beginnt der Vergleich mit den vermeintlich perfekten Leben der anderen. Die Folge: Traurigkeit. Sehr viel Traurigkeit. Eine Langzeitstudie aus Montreal zeigt empirisch einwandfrei: „Je mehr Zeit die Probanden mit sozialen Medien verbrachten, umso stärkere depressive Symptome entwickelten sie“.
Man kann diese Fakten natürlich schönreden, wegdiskutieren oder totschweigen. Aber wozu? Könnten wir nicht einfach aus diesen Systemen aussteigen? Leider ist das nicht mehr so einfach möglich. Immer mehr Unternehmen, öffentliche Einrichtungen, Stadtverwaltungen und sogar Schulen, meine leider auch, werfen sich den Datenkraken an den Hals, in der Hoffnung, für wenig Geld einen kleinen Teil der verlorenen Aufmerksamkeit wieder zurückzugewinnen. Dabei geben sie jede Steuerungsmöglichkeit aus der Hand und beobachten, wie unabhängige digitale Infrastrukturen verkümmern, während ihre eigene Reichweite zunehmend eingeschränkt und monetarisiert wird.
Links zum Thema
The Social Dilemma (Das Dilemma mit den sozialen Medien):
https://www.netflix.com/de/title/81254224
Studie aus Arkansas (Depressionen, social media und Persönlichkeitsstrukturen):
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2666915322000762?via=ihub
Pressemitteilung dazu:
Studie aus Montreal (Zusammenhang zwischen social media und Depressionen):
https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/article-abstract/2737909
Deutsche Zusammenfassung:
https://www.bmv.bz.it/de/news-wissenschaftsliteratur/social-media-und-depressionen
Beitrag von Prof. Ulrich Kelber zum Ende seiner Amtszeit als Bundesdatenschutzbeauftragter:
https://www.bfdi.bund.de/DE/BfDI/Inhalte/Parlamentsbrief/Abschied-Kelber.html